Der Onkel Ernst ist jetzt 85 und malt Sterne. Wenn er kann, macht er das jeden Tag. Dann zieht er seinen Körper aus dem abgewetzten Sessel, setzt seine Brille auf, rückt den Stuhl mit dem Kissen zurecht und beugt sich über den Tisch unter der Lampe in der Stube. Vor Onkel Ernst liegt das kleine Arbeitsbrett. Daneben sind die Stifte und auch der Radiergummi. Abgegriffen ist er, schwarz vom Grafit, nur das rote Innere leuchtet, dort, wo damit radiert wurde. Gerade arbeitet der Onkel Ernst an einem sechszackigen Stern, der von einem vierzackigen Stern gehalten wird. Fast alles ist klein. Die Raute, an der er radiert, die Sterne, die er malt, das niedere Zimmer mit den Deckenbalken, in dem er sitzt, ja, auch der Onkel Ernst ist klein. Nur sein Lachen, sein Kopf, seine Hände und der Fernseher, vor dem er manchmal sitzt, ohne viel zu verstehen, sind groß. Fernsehen schaut er, er hört es nicht. Er sieht da was: Formen, Farben, Zweidimensionalität, Zeit. „Zitt“, sagt er. „Zitt, wo vagout“ – Zeit, die vergeht. Im Tankwartraum saß er auch an Sonntagen, an Feiertagen, malte er auf der Rückseite der Quittungsblöcke. Er konnte in den Rückseiten versinken. „Malt er wieder“, sagen die Erwachsenen. „Malst du mir was?“, sagen die Kinder. Manchmal gab er auch verzierte Quittungen heraus, wenn jemand beim Tanken nach einer fragte. 20 DM, Normalbenzin, und ein Tulpenbouquet dazu. Er zeigt den alten, verwaisten Tankwartraum von außen, Fünfzigerjahrearchitektur, zeigt, wo die Zapfsäulen standen. Hineingehen will er nicht mehr. Der Onkel Ernst lebt auf dem Dorf. Immer schon. Oberrimsingen heißt es, liegt nah am Rhein und der französischen Grenze. Nur einmal war er weg, kam über Colmar, Hagenau und ein drittes Lager, dessen Namen er nicht mehr weiß, bis nach Straßburg – sechzig Kilometer nördlich vom Dorf. Seine größte Reise. Damals in der Gefangenschaft war das. Denkst du oft an den Krieg? Onkel Ernst winkt ab. „Fürs Kaputtmachen war ich nicht so.“ Ihn hat Verehrung, Ergebenheit interessiert. Die zu seiner Mutter, die zu Gott. Und fürs Schöne war er. Für Pflanzen, Vögel, Landschaften. Die malte er noch auf das kleinste Stückchen Papier. Mehr als tausend Sterne hat der Onkel Ernst gemalt in den letzten fünfzehn Jahren. Jeder sieht anders aus. Aber wer weiß schon die genaue Zahl, denn er ist großzügig damit, verschenkt, gibt weg. Jeder soll sich einen aussuchen. Und dann die Ausstellung im alten Tankwartraum vor fünf Jahren, die seine Neffen und Nichten für ihn organisiert haben, da wurde er doch auch fast zweihundert Sterne los. Immer sechs in einem Rahmen. Other projects HAUSBESUCHE View VOLKER FINKE View BREISACHER View ADALAIDE View PETER WEBER View ENRICO PIERI View TIGER View ERNST STERN Current Previous Back to projects